Buchrezension: Baur (2012) Schule, Stadtteil, Bildungschancen
Die Sozialarbeiterin und Referentin für Ganztagsschulen in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Christine Baur, plädiert in ihrem im Dezember 2012 erschienenen Buch „Schule, Stadtteil, Bildungschancen“ u.a. für die Desegregation von innerstädtischen Schulen mit hohem Zuwandereranteil.
Ausgangspunkt für das Buch ist die seit Jahren weit verbreitete Erkenntnis, das schulischer Erfolg in Deutschland wie in kaum einem anderen industrialisierten Land in hohem Maße von der sozialen Herkunft jedes einzelnen Schülers bzw. Schülerin abhängt. Baur geht in ihrem Buch noch einen Schritt weiter: In Anlehnung an jüngste Ergebnisse aus der deutschen Segregationsforschung nennt sie die Zusammensetzung der Schülerschaft als maßgeblichen zusätzlichen Einflussfaktor auf den Schulerfolg von einzelnen Schülern.
Um den Zusammenhang zwischen Klassenzusammensetzung und Schülerleistung zu untersuchen, stützt sich Baurs qualitative Analyse auf Stakeholder-Interviews, verschiedene Beobachtungsformen und relevante Dokumente wie Schülerakten (Fallstudienansatz/Aktionsforschungsansatz). Primärer Forschungsgegenstand sind 19 Schüler der stark segregierten Eberhard-Klein-Schule (EKO; eine integrierte Haupt- und Realschule)in Berlin-Kreuzberg.
Die Ergebnisse sind insofern interessant, als dass Baur dank ihrer ehemaligen Tätigkeit als Sozialarbeiterin der EKO einen ungewöhnlich detaillierten Einblick in die Lebenswirklichkeit der Schüler hat. Die Stärke des Buches liegt somit weniger im quantitativ analytischen Teil (Kap. 2 und 3), sondern in der mit Anekdoten gespickten Fallstudie (Kap.5). Der Leser wird an der Hand durch den Alltag der Jugendlichen im Kreuzberger Wrangelkiez geführt. Die Schüler berichten von autoritären Vätern, die ältere Geschwister zu Kontrollgängen auf den Schulhof schicken, von Schülerinnen, die den Unterricht schwänzen umso den permanenten Zwängen des familiären Alltags gegen ein Stückchen empfundene Freiheit zu tauschen, von männlichen Schülern die unter dem familiären Erwartungsdruck leiden und an öffentlichen Plätzen mit Kriminalität und Drogen in Kontakt geraten. Gleichzeit betonen die Schülerinnen und Schüler die Vorteile der Infrastruktur der ethnischen Community und verwandtschaftlicher Solidarität. Die Leistungs- und Verhaltensnormen des Viertels und der Mitschüler scheinen in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Schüler zu nehmen, wenngleich die Familie weiterhin der größte Einflussfaktor bleibt. Drei Jahre nach der Untersuchung befand sich nur eine Schülerin in einer traditionellen Ausbildung, der Rest war entweder in außerbetrieblichen Fortbildungen zu finden oder hatte noch keine Ausbildung begonnen.
Aus den prekären Zukunftsaussichten der Schüler der EKO, einer zum Teil unscharfen Analyse von Schul- und Schulumfelddaten (z.B. Gegenüberstellung nicht vergleichbarer schulischer und amtlicher Daten zum Migrationshintergrund) und einer zweifelhaften Bewertung vergangener Desegregationsmaßnahmen in Frankreich und den USA leitet Baur die Forderung nach Desegregation anhand sozioökonomischer Kriterien ab. Diese erste von insgesamt neun Handlungsempfehlungen widerspricht einer objektiven Auswertung vergangener Durchmischungsversuche im In- und Ausland, sowie gängigen Annahmen politischer Machbarkeit. Bildungsnahe Eltern der Mittelschicht, die zum Teil eine bewusste Entscheidung gegen ihre Nachbarschaftsschule getroffen haben würden sich gegen Versuche der Durchmischung wehren, und schon gar nicht eine ‚Versetzung‘ des eigenen Nachwuchs an eine segregierte Schule tolerieren. Die Mischung der Schülerschaft zur Lösung der Segregationsproblematik ist der vermeintlich einfache, und nicht selten geforderte, Weg. Doch angesichts der Tatsache, dass vergangene Maßnahmen der Desegregation weder eine positive Wirkung auf Schülerleistung gezeigt haben, noch politisch durchsetzbar sind, werden Schulen, Verwaltung und Politik nicht umher kommen, den steinigen Weg der konsequenten Verbesserung der Lernmöglichkeiten an segregierten Schulen zu gehen. Auch hierzu gibt die Lektüre von „Schule, Stadtteil, Bildungschancen“ ein paar zielführende Anregungen.
Von Simon Morris-Lange