Sonntag, 17. März 2013

Setzen, sechs! Neue PISA-Ergebnisse belegen Benachteiligung von Jungen und ärmeren Schülern bei der Notenvergabe

Sie haben uns alle jahrelang zittern lassen – und sie treiben jeden Tag den Adrenalinspiegel von tausenden von Schülerinnen und Schülern in die Höhe: Noten. Sie können einen stolz machen oder verzweifeln lassen – vor allem aber haben die Bewertungen durch Lehrkräfte großen Einfluss auf die Zukunftschancen junger Menschen, und das weltweit: Über 95% aller Schülerinnen und Schüler, die am internationalen Programm zur Schülerbewertung PISA der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD teilnehmen, besuchen Schulen, die Lernerfolge durch benotete Prüfungen oder Schulprojekte bewerten.

Umso besorgniserregender sind deshalb die neuen PISA-Ergebnisse, die die OECD nun vorgelegt hat: Lehrkräfte tendieren dazu, Mädchen und Schüler mit höherem sozialökonomischen Status bessere Noten zu geben als Jungen und Schülern aus sozial benachteiligten Familien, auch wenn diese gleiche Schulleistungen bzw. Lernbereitschaft zeigen. Diese Praxis ist deshalb so problematisch, weil sie weitreichende Konsequenzen mit sich bringen könnte – denn zum Einen beeinflussen Noten erheblich die Erwartungen von Schülerinnen und Schüler an ihre eigenen späteren Bildungs- und Berufserfolge; zum Anderen sind Noten immer noch eines der wichtigsten Auswahlkriterien für den Zugang zu höherer Bildung, z.B. beim Eintritt in Universitäten.

Immer wenn Lehrerinnen und Lehrer also Eigenschaften ihrer Schülerschaft benoten, die nichts mit Lernerfolgen zu tun haben, prägen sie womöglich den zukünftigen Lebenslauf junger Menschen ohne deren tatsächliche Fähigkeiten, Talente und persönliche Ziele zu berücksichtigen.

Deshalb ist es so wichtig, dass Schulen ein Benotungskonzept bereitstellen, das tatsächliche Lernerfolge belohnt, und nicht Faktoren wie den familiären Hintergrund oder das Geschlecht. Bisherige Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass kleinere Notenskalen (z.B. eins bis fünf) besser geeignet sind, Lernerfolge zu qualifizieren als größere (manche Länder haben beispielsweise Skalen von 1 bis 100). Außerdem empfiehlt die OECD folgende weiteren Kriterien für eine faire und effiziente Benotung:

  • Noten sollten immer klar und transparent dargestellt werden und darauf ausgerichtet sein, den Lernerfolg zu steigern;
  • Noten sollten klare und präzise Kriterien zugrunde liegen, die die Lernleistung anhand vorher festgelegter Ziele bewerten;
  • Benotungen sollten nicht dazu verwendet werden, eine Erwartungshaltung seitens der Lehrkraft auszudrücken oder um Verhalten oder etwa die Handschrift zu beurteilen; falls überhaupt nötig sollten dafür zwei unabhängige Bewertungssysteme geführt werden;
  • Noten sollten nicht zur Bestrafung von Schülerinnen und Schülern eingesetzt werden, etwa weil sie Schularbeiten zu spät oder unvollständig eingereicht haben;
  • die Notenverteilung innerhalb einer Klasse oder Gruppe sollte nicht vorher festgelegt sein, da dies die Motivation der Schülerinnen und Schülern hemmt und zu einer schädlichen Wettbewerbssituation innerhalb der Klassengemeinschaft führen kann;
  • der Einsatz von numerischen Bewertungen sollte in manchen Bereichen mit einer qualitativen, persönlichen Bewertung durch die Lehrkraft abgewogen werden.

Natürlich hört sich das alles leichter an als getan. Jeder, der schon einmal in der Situation war, Noten vergeben zu müssen, weiß, dass das eine ziemliche Herausforderung sein kann. Dennoch machen die PISA-Ergebnisse deutlich, wie wichtig eine stetige Auseinandersetzung mit den Hintergründen und gegebenenfalls Vorurteilen des Benotungssystems ist. Denn schlechte Noten bedeuten oft nicht nur eine miese Laune bei den Eltern und weniger Taschengeld, sondern können die gesamte Bildungslaufbahn eines jungen Menschen nachhaltig beeinträchtigen.

Von Harald Wilkoszewski

Donnerstag, 21. Februar 2013

Bildungspolitik vorerst ohne die CDU

Seit gestern ist es amtlich: Mit dem Amtsantritt der neuen rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen hat die CDU ihren letzten Kultusminister verloren. Bildungspolitik, die vor nicht allzu langer Zeit noch als christdemokratische Kernkompetenz galt, ist inzwischen zu einem ausgewachsenen Kompetenzdefizit geworden.

Das hat natürlich mit einer ganzen Reihe von Niederlagen zu tun, die die Partei in den vergangenen Jahren bei Landtagswahlen einstecken musste. Doch auch dort, wo man noch regieren darf, ist der Gestaltungswille in Bildungsfragen ausgesprochen mau. Immerhin stellt die CDU heute noch fünf Ministerpräsidenten und ist an zwei weiteren Landesregierungen beteiligt, das Bildungsressort liegt jedoch stets in anderen Händen. Meist hat man von vornherein zu Gunsten des jeweiligen Koalitionspartners auf das Kultusministerium verzichtet; und dort, wo – wie in Sachsen – der eigene Minister aus Protest gegen die knappe Finanzausstattung zurückgetreten ist, musste man auf parteilose Experten zurückgreifen.

Aus Mangel an Kompetenzträgern fällt es der Partei zunehmend schwer, in der Bildungspolitik eigene Akzente zu setzen. So ist es auch kein Wunder, dass sich nach dem Rücktritt von Annette Schavan nur eine CDU-Kandidatin als neue Bundesbildungsministerin aufdrängte: Johanna Wanka, soeben abgewählte Wissenschaftsministerin aus Niedersachsen. Allzu viel verändern wird sie ähnlich wie ihre Vorgängerin ohnehin nicht können. Denn Bildung ist in Deutschland bekanntlich Ländersache – und die lassen sich vom Bund selbst gegen Bares nur ungern in ihre Angelegenheiten reinreden. Nicht umsonst wurde erst kürzlich in durchaus ernstzunehmenden Medien eine Abschaffung des Bundesbildungsministeriums gefordert.

Der systematische und in großen Teilen selbst verschuldete Verlust an Einfluss auf den deutschen Bildungsdiskurs wiegt schwer für die Christdemokraten. Egal ob Inklusion, Kita- und Ganztagsschulausbau oder Studiengebühren: Längst sind Bildungsthemen regelmäßig zu beliebten Wahlkampfthemen geworden – und können durchaus wahlentscheidend sein wie Analysen zum letzten Urnengang in Niedersachen belegen. Unter Landespolitikern dominiert jedoch eher die Furcht: Mit Bildungspolitik, so lautet die weit verbreitete Überzeugung, seien keine Wahlen zu gewinnen, wohl aber zu verlieren. Doch wer keinen Bildungsminister mehr stellt, hat auch keinen Zugriff mehr auf die Heerscharen an kompetenten Beamten, die in der gelebten Praxis für die inhaltliche Kompetenz der Parteien in einem Politikfeld meist unverzichtbar sind. Das ist das Kernproblem, mit dem die CDU nun in der Bildungspolitik zu kämpfen haben wird.

Immerhin einen Vorteil hat der Wahlausgang in Niedersachsen für die Christdemokraten: Bislang gab es noch vor jeder Sitzung des Bundesrates ein Koordinationstreffen der unionsgeführten Bildungsministerien. Dieser Aufwand ist nun erst einmal verzichtbar. Denn der bayerische CSU-Kultusminister Ludwig Spaenle wird wohl keine Selbstgespräche führen müssen, um sich seiner Positionen zu vergewissern. In Bayern wird im September ein neuer Landtag gewählt.

Von Ralph Müller-Eiselt

Dienstag, 22. Januar 2013

Buchrezension: Baur (2012) Schule, Stadtteil, Bildungschancen

Die Sozialarbeiterin und Referentin für Ganztagsschulen in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Christine Baur, plädiert in ihrem im Dezember 2012 erschienenen Buch „Schule, Stadtteil, Bildungschancen“ u.a. für die Desegregation von innerstädtischen Schulen mit hohem Zuwandereranteil.

Ausgangspunkt für das Buch ist die seit Jahren weit verbreitete Erkenntnis, das schulischer Erfolg in Deutschland wie in kaum einem anderen industrialisierten Land in hohem Maße von der sozialen Herkunft jedes einzelnen Schülers bzw. Schülerin abhängt. Baur geht in ihrem Buch noch einen Schritt weiter: In Anlehnung an jüngste Ergebnisse aus der deutschen Segregationsforschung nennt sie die Zusammensetzung der Schülerschaft als maßgeblichen zusätzlichen Einflussfaktor auf den Schulerfolg von einzelnen Schülern.

Um den Zusammenhang zwischen Klassenzusammensetzung und Schülerleistung zu untersuchen, stützt sich Baurs qualitative Analyse auf Stakeholder-Interviews, verschiedene Beobachtungsformen und relevante Dokumente wie Schülerakten (Fallstudienansatz/Aktionsforschungsansatz). Primärer Forschungsgegenstand sind 19 Schüler der stark segregierten Eberhard-Klein-Schule (EKO; eine integrierte Haupt- und Realschule)in Berlin-Kreuzberg.

Die Ergebnisse sind insofern interessant, als dass Baur dank ihrer ehemaligen Tätigkeit als Sozialarbeiterin der EKO einen ungewöhnlich detaillierten Einblick in die Lebenswirklichkeit der Schüler hat. Die Stärke des Buches liegt somit weniger im quantitativ analytischen Teil (Kap. 2 und 3), sondern in der mit Anekdoten gespickten Fallstudie (Kap.5). Der Leser wird an der Hand durch den Alltag der Jugendlichen im Kreuzberger Wrangelkiez geführt. Die Schüler berichten von autoritären Vätern, die ältere Geschwister zu Kontrollgängen auf den Schulhof schicken, von Schülerinnen, die den Unterricht schwänzen umso den permanenten Zwängen des familiären Alltags gegen ein Stückchen empfundene Freiheit zu tauschen, von männlichen Schülern die unter dem familiären Erwartungsdruck leiden und an öffentlichen Plätzen mit Kriminalität und Drogen in Kontakt geraten. Gleichzeit betonen die Schülerinnen und Schüler die Vorteile der Infrastruktur der ethnischen Community und verwandtschaftlicher Solidarität. Die Leistungs- und Verhaltensnormen des Viertels und der Mitschüler scheinen in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Schüler zu nehmen, wenngleich die Familie weiterhin der größte Einflussfaktor bleibt. Drei Jahre nach der Untersuchung befand sich nur eine Schülerin in einer traditionellen Ausbildung, der Rest war entweder in außerbetrieblichen Fortbildungen zu finden oder hatte noch keine Ausbildung begonnen.

Aus den prekären Zukunftsaussichten der Schüler der EKO, einer zum Teil unscharfen Analyse von Schul- und Schulumfelddaten (z.B. Gegenüberstellung nicht vergleichbarer schulischer und amtlicher Daten zum Migrationshintergrund) und einer zweifelhaften Bewertung vergangener Desegregationsmaßnahmen in Frankreich und den USA leitet Baur die Forderung nach Desegregation anhand sozioökonomischer Kriterien ab. Diese erste von insgesamt neun Handlungsempfehlungen widerspricht einer objektiven Auswertung vergangener Durchmischungsversuche im In- und Ausland, sowie gängigen Annahmen politischer Machbarkeit. Bildungsnahe Eltern der Mittelschicht, die zum Teil eine bewusste Entscheidung gegen ihre Nachbarschaftsschule getroffen haben würden sich gegen Versuche der Durchmischung wehren, und schon gar nicht eine ‚Versetzung‘ des eigenen Nachwuchs an eine segregierte Schule tolerieren. Die Mischung der Schülerschaft zur Lösung der Segregationsproblematik ist der vermeintlich einfache, und nicht selten geforderte, Weg. Doch angesichts der Tatsache, dass vergangene Maßnahmen der Desegregation weder eine positive Wirkung auf Schülerleistung gezeigt haben, noch politisch durchsetzbar sind, werden Schulen, Verwaltung und Politik nicht umher kommen, den steinigen Weg der konsequenten Verbesserung der Lernmöglichkeiten an segregierten Schulen zu gehen. Auch hierzu gibt die Lektüre von „Schule, Stadtteil, Bildungschancen“ ein paar zielführende Anregungen.

Von Simon Morris-Lange

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Segregation an Grundschulen: Elterliche Schulwahl verschärft Trennung von Kindern nach Herkunft

Aktiv von Eltern betriebene Schulwechsel verschärfen die Trennung der Schüler mit und ohne Migrationshintergrund bereits an Grundschulen. Dies führt von Anfang an zu ungleichen Lernchancen für Kinder mit Migrationshintergrund. In vielen Großstädten Deutschlands ist eine Trennung der Schülerschaft nach Merkmalen wie sozialer Schicht oder Migrationshintergrund bereits an Grundschulen festzustellen. Dies ist nur zum Teil durch die Bevölkerungsstruktur der Schuleinzugsbereiche zu erklären. Die Segregation wird vielmehr durch die elterliche Schulwahl verschärft. Dies zeigt ein Policy Brief des Forschungsbereichs beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) anhand deutschlandweiter Studien und einer eigenen Analyse von Berliner Schul- und Einwohnerdaten für 108 Grundschulen von vier Berliner Innenstadtbezirken.

Danach haben 21,3 Prozent der Grundschulen einen Zuwandereranteil, der mehr als doppelt so hoch ist wie der Anteil unter den 6- bis 12-Jährigen im dazugehörigen Schulbezirk. Der Policy Brief untersucht die Entscheidungsfaktoren der Eltern, die Folgen für die Schulen und gibt Handlungsempfehlungen. Da die tatsächliche Qualität einer Schule häufig nicht in Erfahrung gebracht werden kann, nehmen viele Eltern den Zuwandereranteil als Indiz für das Lernumfeld und das Leistungsniveau. Dies bestätigt auch die Auswertung von mehr als 900.000 Zugriffen auf Online-Schulportraits in Berlin und Sachsen, wonach der Zuwandereranteil die am häufigsten nachgefragte Information ist. Schulen mit hohem Zuwandereranteil werden oft gemieden, da die meisten Eltern diese mit mangelhaften Lernmöglichkeiten und einem problembelasteten Umfeld assoziieren. Nationale und internationale Schulleistungstests, die das schlechte Abschneiden von Kindern mit Migrationshintergrund nachweisen, tragen zur Verfestigung dieses Meinungsbildes bei.

Dabei belegen zahlreiche Studien übereinstimmend, dass die elterliche Zurückhaltung gegenüber segregierten Schulen nicht immer begründet ist: Gemeinsames Lernen leistungsschwacher und leistungsstarker Schüler ist für letztere kein Nachteil. Eltern sollten daher keine Pauschalurteile über Schulen mit einem hohen Anteil von Zuwandererkindern fällen. Entscheidend sind die konkreten Lernbedingungen an einer Schule.

In Großstädten sorgen rund zehn Prozent der Eltern mit Erfolg dafür, dass ihre Kinder auf die bevorzugte Grundschule wechseln können. Ein großer Teil der Eltern weiß aber gar nicht, dass eine Wahlmöglichkeit besteht: dies gilt für 43 Prozent der Eltern ohne Migrationshintergrund. Bei Eltern mit türkischem Migrationshintergrund sind 57 Prozent nicht über ihre Wahlmöglichkeit informiert. Die Folgen der elterlichen Schulwahl für die Zusammensetzung der Schülerschaft sind schwerwiegend: Die Segregation führt vom ersten Schultag an zu schlechteren Startchancen für Kinder mit Migrationshintergrund, die bereits in vielen Fällen auf Grund ihrer sozialen Herkunft benachteiligt sind. Da die meisten Familien bei der Wahl der Sekundarschule der Übergangsempfehlung der Grundschule folgen, kommt den Grundschulen in Deutschland eine im internationalen Vergleich besonders richtungsweisende Bedeutung zu.

Die negativen Leistungseffekte schulischer Segregation lassen sich aber nicht durch eine erzwungene Mischung der Schülerschaft beseitigen. Erfolgversprechend sei vielmehr eine gezielte Verbesserung von Lernmöglichkeiten an segregierten Schulen. Der Policy Brief empfiehlt drei Maßnahmen, die von den Schulen selbst in die Wege geleitet werden können: (1) Kooperative Elternarbeit, um Eltern zur aktiven Unterstützung der Schullaufbahn ihrer Kinder zu befähigen; (2) Vernetzung zwischen Schulen sowie mit externen Partnern wie Vereinen und Kultureinrichtungen, um die Schule auch für bildungsnahe Eltern attraktiver zu machen; (3) koordinierte und zielgerichtete Lehrerfortbildung für das gesamte Kollegium, z.B. bei der durchgängigen Sprachbildung oder der individuellen Förderung. Darüber hinaus bedarf es struktureller Maßnahmen, die in die Zuständigkeit der Bundesländer fallen. Ein Beispiel hierfür ist eine gezielte Unterstützung der Schulen auf Basis von Sozialindizes, die den Förderbedarf einzelner Schulen anhand verschiedener Indikatoren der Schule und ihres sozialen Umfelds (z.B. Arbeitslosenquote) ermitteln. Diese und andere Maßnahmen wird der SVR-Forschungsbereich in einer Studie zur Bildungssegregation in Deutschland untersuchen, die im Sommer 2013 veröffentlicht wird.

Der Policy Brief kann hier heruntergeladen werden.

von Simon Morris-Lange

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Charta für eine neue Promotionskultur

Plagiate sind kein Kavaliersdelikt. Es hat zwar ein bisschen gedauert, aber im Laufe des Jahres 2011 ist diese Botschaft doch allmählich auch in der breiteren Öffentlichkeit angekommen. Für einige Politiker bedeutete das neu entfachte öffentliche Interesse an ihren akademischen Leistungen gar das vorläufige Karriereende. Dass sich am Ende doch die Auffassung durchsetzte, wissenschaftliches Fehlverhalten habe durchaus auch politische Relevanz, kann die Wissenschaft durchaus als Erfolg verbuchen.

Für die Wissenschaft fängt die Bewältigung der Affären damit aber erst an. Angesichts der viele Fragen, die sich aus der mangelnden Umsetzung guter wissenschaftlicher Praxis ergeben, wäre es zu einfach, von einem eindeutigen Sieg der Wissenschaft zu sprechen. Zu deutlich ist, dass man an Deutschlands Universitäten eben nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Angesichts der jüngsten Berichte, dass einige Professoren bereits früh Kenntnis vom Plagiatsverdacht bei zu Guttenberg wussten, aber keine Maßnahmen ergriffen oder dem Entdecker unter Verweise auf eine mögliche Schädigung der Karriere rieten, den Verdacht nicht öffentlich zu machen, stellt sich die Frage, ob sich an den Universitäten tatsächlich eine "Kultur des Wegsehens" oder der falsch verstandenen Kollegialität etabliert hat.

Nachdem auch die großen Wissenschaftsorganisationen ihre in der Causa Guttenberg anfänglich zu beobachtende Schockstarre überwunden und schon in der Causa Koch-Mehrin zu deutlichen Worten gefunden hatten, hat auch der Diskurs innerhalb der Universitäten und Wissenschaftsorganisationen an Fahrt gewonnen. Landauf und landab haben sich Veranstaltungen der Thematik gewidmet, auf denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über unterschiedliche Möglichkeiten zur Stärkung guter wissenschaftlicher Praxis diskutierten - gestern auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen unter Federführung der DFG (Video-Mitschnitt der Podiumsdiskussion; Berichte im Deutschlandfunk und der taz). Ein Ausgangspunkt der Diskussion waren Vorschläge, die in den letzten Wochen und Monaten von unterschiedlichen Akteuren im Wissenschaftsbereich erarbeitet wurden. Im November stellte beispielsweise der Wissenschaftsrat ein Positionspapier zur Qualitätssicherung der Promotion vor, in dem unter anderem für die stärkere Einbindung von Doktoranden in Forschungsstrukturen, die Betreuung durch mehrere Personen und die Beschränkung auf zwei Notenstufen plädiert wird. Andere, wie beispielsweise der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, sprechen sich gegen die "Ablösung des persönlichen Verhältnisses zwischen Doktoranden und Doktorvater bzw. Doktormutter zugunsten einer entpersonalisierten Zuweisung der Doktoranden an ein Promotionskomitee" aus.

Leider wird in diesen Diskussionen meist eher über Doktoranden diskutiert als mit ihnen. Das ist aus zwei Gründen bedauerlich:

Zum einen könnte man beinahe den Eindruck gewinnen, es seien in erster Linie die Doktoranden, bei denen wissenschaftliches Fehlverhalten zu beobachten sei. Dabei hat beispielsweise die WissenschaftlerInnen-Befragung 2010 des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (iFQ) deutliche Zahlen zu Tage gefördert: "Die Probleme wissenschaftlichen Fehlverhaltens werden in der Scientific Community – nicht nur vor dem Hintergrund der jüngsten Skandale – sehr genau registriert. Mehr als die Hälfte der befragten Professorinnen und Professoren berichtete eigenes oder fremdes Fehlverhalten – insbesondere versagte oder künstliche Autorschaft und Nachlässigkeiten im Zuge von Begutachtungen." (S. 185-186) Nicht zuletzt ließe sich argumentieren, dass Doktoranden häufig Opfer wissenschaftlichen Fehlverhaltens werden.

Zum anderen fehlen in der Debatte die Stimmen derjenigen, die am meisten von den bevorstehenden Änderungen betroffen sein werden - ob es sich um die Einführung von eidesstattlichen Versicherungen, verpflichtenden Kursen oder Plagiatssoftware handelt. Ungeachtet der (mehr oder minder großen) Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen wäre es wünschenswert, wenn man mehr darüber wüsste, was Doktorandinnen und Doktoranden von den gegenwärtig diskutierten Vorschlägen halten. Dabei weiß man noch nicht einmal besonders viel über all jene, die in Deutschland an ihrer Doktorarbeit sitzen. Noch nicht einmal genaue Zahlen über die Anzahl der Promovierenden sind bekannt. Auch deswegen fordert der Wissenschaftsrat einen eigenen "Doktorandenstatus" für alle Promovierenden, mit dem eine ungeachtet der Anbindung eine Erfassung seitens der Universitäten möglich wäre, gleichzeitig aber auch auch die Interessenvertretung des Nachwuchses erleichtern könnte.

Zunächst erscheint es aber wünschenswert, eine Position des wissenschaftlichen Nachwuchses zur Qualitätssicherung der Promotion zu erarbeiten. In Kooperation mit dem Promovierenden-Netzwerk THESIS will bildungsrepublik.de daher versuchen, eine solche Diskussion in Gang zu setzen. Mit der Technologie von echo wollen wir ein Experiment wagen, das auf die Mitarbeit von vielen angewiesen ist, aber auch den Nachweis antreten könnten, dass der wissenschaftliche Nachwuchs im Internet nicht nur meckern, sondern auch konstruktive Vorschläge machen kann. Ersteres hat mit dem Offenen Brief von Doktoranden an die Bundeskanzlerin bereits gut funktioniert - und auch Zweiteres sollte zu schaffen sein.

Wir freuen uns über Mitarbeit, Anregungen und Kommentare. Mehr Informationen zur Aktion gibt es auf der entsprechenden Seite bei echo - www.echo.to/charta-promotionskultur - sowie auf der für die Aktion eingerichteten Facebook-Seite.

Mittwoch, 23. November 2011

Von den Absurditäten des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes

Das Wort an sich - Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) - ist schon ein Ungetüm. Ungemütlich kann es auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs werden, der sich eigentlich nur eine vernünftige Karriereperspektive wünscht. Im Gegensatz zu anderen Hochschulsystemen bietet das deutsche unterhalb der Professur kaum unbefristete Anstellungsmöglichkeiten. Damit Mitarbeiter nicht auf ewig befristet beschäftigt werden, gibt es die sogenannte 12-Jahres-Regel, die besagt, dass Wissenschafterinnen und Wissenschaftler nicht länger als zwölf Jahre (sechs vor und sechs nach Abschluss der Promotion) beschäftigt werden dürfen. Aber natürlich gibt es Ausnahmen, die allerdings  zu teils absurden Konsequenzen führen. 
Ein Beispiel gibt Markus Dahlem in seinem Beitrag für die SciLogs, in dem er anhand seines eigenen Werdegangs darlegt, mit welch komplexen Konstruktionen in der Praxis hantiert wird:

"[...] dieses Gesetz führt in der Tat zu einer widersinnigen Regelung, weil es unzureichend von zwingend greifenden Maßnahmen zur Schaffung von akademischen Juniorpositionen flankiert ist, d.h. Positionen, die Auskommen und Karrierepersepktive bieten [...].
Bevor jemand diese Regelung kritisiert, sollte er bedenken, dass wohl leider der wesentliche Grund, warum sie ins Leere läuft, gerade der ist, dass mit hoher Kreativität von Alternativen zur akademischen Juniorposition Gebrauch gemacht wird, um dieses Gesetz bewusst zu umgehen – ich kann die unredlichen davon gar nicht alle aufzählen, aber die Leser können es in den Kommentaren. Natürlich wird ein Gesetz, das umgangen werden kann, nicht zu der gewünschten Regelung des wissenschaftlichen Nachwuchses führen."
Die gegenwärtige Regelung führt seiner Meinung nach nicht zu einer Verbesserung der Position des wissenschaftlichen Nachwuchs, der Unabhängigkeit und Perspektive benötige. Die Lösung sieht Markus Dahlem in mehr akademischen Juniorpositionen. Von diesen ist an deutschen Universitäten bislang kaum etwas zu sehen: 
"Ich frage konkret: wie viel Prozent der akademischen Juniorpositionen, die als Anschub Drittmittel-finanziert wurden, sind heute verstetigt und werden aus dem Etat der Hochschule getragen? Der Druck für eine Reform verpufft, solange es günstigere Lösungen gibt."
In seinem Fall war die günstigere Lösung eine Gastdozentur. Er fordert daher eine Strukturreform für die Karrierewege des wissenschaftlichen Nachwuchses: 
"Es liegt weniger an der Rechtslage, denn dass nach 12 Jahren die Qualifikationsphase nicht mehr als Befristungsgrund gelten kann, ist selbsverständlich. Weniger selbstverständlich, aber mit einer föderalen Bildungspolitik gewollt, ist, dass die Strukturreform vor Ort geregelt werden muss.
Dem politischen Willen im Hochschulrahmengesetz müssen endlich Taten folgen. Da eine Strukturreform kostenneutral erfolgen muss, wird es nicht ohne Verlierer gehen. [...] Ein weiteres Stück der Verantwortung für die momentane Fehlentwicklung liegt sicher auch ganz vorne, in den Händen des Nachwuchses selbst. Als Wissenschaftler trage auch ich Verantwortung für die Redlichkeit des Systems, in dem ich Wissenschaft machen will." 
Um gegen die Missstände vorzugehen, hat Markus Dahlem bei Facebook eine Seite "25% akademische Juniorpositionen" ins Leben gerufen, auf der man sich zum Thema austauschen kann und weitere Initiativen koordiniert werden können. 

Dienstag, 8. November 2011

Neue PISA-Ergebnisse: Eltern brauchen keinen Doktortitel

Von Harald Wilkoszewski 



Mütter und Väter haben es vielleicht schon immer intuitiv gewusst: Der Schulerfolg ihrer Kinder hängt nicht unbedingt davon ab, ob man selbst einen hohen Ausbildungsgrad erreicht hat. Wichtig ist vor allem ein echtes, aktives Interesse am Leben des Nachwuchses.

Um ihre Kinder in der Schule zu unterstützen, müssen Eltern keine promovierten Mathematiker, Germanisten oder Physiker sein. Grundlegende Aktivitäten wie regelmäßiges Vorlesen, Gespräche über die Schulsituation, über Bücher, Filme oder Fernsehprogramme oder auch nur über allgemeine Themen steigern den Schulerfolg von Kindern erheblich.

Dies zeigen neue Ergebnisse des internationalen Programms zur Schülerbewertung PISA, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) heute in der Reihe Pisa in Focus veröffentlicht hat: What can parents do to help their children succeed in school? (PDF)
So erzielen Schüler, deren Eltern angaben, während des ersten Grundschuljahres „täglich oder beinahe täglich“ gemeinsam mit ihren Kindern ein Buch gelesen zu haben, im Alter von 15 Jahren deutlich bessere Testergebnisse im Lesen als jene Schüler, deren Eltern „nie oder fast nie“ bzw. „nur ein- bis zweimal pro Monat“ gemeinsam mit ihren Kindern lasen. Die Testergebnisse wichen um durchschnittlich 25 Bewertungspunkte ab – ein beträchtlicher Vorsprung, der mehr als einem halben Schuljahr entspricht. In Deutschland, das zu den 14 untersuchten Ländern gehörte, betrug der Unterschied sogar 50 Bewertungspunkte.

Die Ergebnisse der Analysen widersprechen darüber hinaus der landläufigen Meinung, dass bessere Schulleistungen vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Familie abhängen. Ein Großteil der höheren Lesekompetenz, durchschnittlich 14 Bewertungspunkte (Deutschland: 29), bleibt nämlich auch dann erhalten, wenn Faktoren wie Bildungsstand und Haushaltseinkommen der Eltern berücksichtigt werden.

Die OECD sieht diese Ergebnisse als ermutigendes Signal an Eltern, die sich vielleicht Sorgen um ihre Fähigkeiten machen, ihre Kinder in der Schule ausreichend zu unterstützen. Einfache Schritte, wie eben regelmäßiges Vorlesen in jungen Jahren und Gespräche mit den Kindern, können Schulleistungen erheblich steigern. Und dazu bedarf es wahrlich keines Doktorhuts.

Die OECD-Mitteilung im Wortlaut (auf Englisch): http://oecdeducationtoday.blogspot.com/